Hilfsgüterverteilung in Spellë, Sommer 1994

Gemeinsam wachsen – 30 Jahre für ein besseres Leben

2022 stand ein Doppeljubiläum an: 30 Jahre CHW, 10 Jahre Diakonia Albania. Frieder Weinhold blickt aus diesem Anlass auf die Anfänge der Arbeit zurück und fasst die Entwicklung zusammen.

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Vor 30 Jahren startete die erste Hilfsaktion aus Wismar für Albanien. Dabei verfolgten wir von Beginn an einen ganzheitlichen Ansatz: Alle Beteiligten werden in den verschiedensten Lebensbereichen ernst genommen. So wurden aus Hilfsempfängern Partner, und auch die Helfer haben sich verändert.

Motivation und Initialzündung

Für jede Hilfsaktion gibt es einen Auslöser. Für unsere Albanienhilfe war dies ein denkwürdiges Wochenende. Als damaliger Kreisjugendpastor der Evangelisch-methodistischen Kirche (EmK) hatte ich von 24.–26.11.1991 zu einem Wochenendseminar unter dem Thema „Christliche Verantwortung in der einen Welt“ eingeladen. Die öffentlichen Abendveranstaltungen fanden im Wismarer Theater statt, denn wir hatten zwei bedeutende Gäste: Die Holocaust-Überlebende Rose Price, die im KZ Bergen-Belsen gepeinigt worden war, erzählte ihre Geschichte. Der zweite Gast war Loren Cunningham von „Jugend mit einer Mission“.

So kamen zwei Dinge zusammen: der Blick in die Vergangenheit mit einer Botschaft über Versöhnung, sowie die anregende Rede von Loren Cunningham, der uns Mut machte, in der Welt neu Verantwortung in Form von christlicher Nächstenliebe zu übernehmen. Er endete mit dem Aufruf, „Jugend mit einer Mission“ praktisch durch Hilfstransporte nach Pogradec in das sich gerade öffnende Albanien zu unterstützen.

Ich selbst war schon im Januar 1987 angefragt worden, für Albanien tätig zu werden. Angesichts der Abschottung des Landes war das zu dieser Zeit illusorisch. Doch der Gedanke schlummerte bereits in mir, und so war ich bereit, Lorens Aufruf nach Pogradec zu folgen. Aber wie würden die Mitglieder meiner kleinen EmK-Gemeinde reagieren? Nun, sie machten mit und engagierten sich vorbildlich bei der Vorbereitung ­eines ersten Hilfstransports, der im Februar 1992 aufbrach.

Drei Dinge möchte ich dazu anmerken. Erstens: Es war gut, dass wir nicht wussten, worauf wir uns einließen – sonst hätten wir nie angefangen. So gingen wir einfach los und lernten durch unsere Erfahrungen dazu.

Zweitens: Ein Motiv für unser Tun war Dankbarkeit. Wir in der DDR hatten von Christen aus Westdeutschland und aus England lange Zeit reichlich Unterstützung bekommen. Jetzt waren Grenzen und Mauern gefallen, und wir konnten das Empfangene an andere weitergeben.

Und drittens: Wir waren eine kleine Gemeinde. Als starke Truppe hätten wir die Albanienhilfe vielleicht aus eigener Kraft gestemmt, doch die Initiative wäre bald erlahmt. So aber arbeiteten wir von Anfang an mit Freunden, anderen Gemeinden und auch vielen Nichtchristen auf Augenhöhe zusammen. Ihre Mitarbeit hat uns angespornt weiterzumachen. (Mit dem „Albanienheft“ informierten wir diesen Freundeskreis über unsere Aktionen, aber auch über das Land und seine liebenswerten Menschen. Es trug dazu bei, unseren Spender- und Mitarbeiterkreis zu erweitern, so dass wir mit unserer kleinen Kraft bis heute durchhalten konnten – wenn auch oft äußerst knapp.)

Erste Aktionen: Hilfstransporte

1992 führten wir drei Einsätze durch. Hilfsgüter lagen nach dem Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft sozusagen auf der Straße; ABM-Kräfte halfen uns sie aufzuarbeiten. Fahrzeuge gab es aus NVA-, Stasi-, Polizei- und Justiz-Beständen; ein Handwerker spendete einen Barkas.

Die erste Fahrt war ein großes Abenteuer – noch nie waren wir so weite Strecken gefahren. Da der Landweg über Jugoslawien wegen der Bürgerkriege verschlossen war, ging die Fahrt von Süditalien mit der Fähre nach Griechenland (Igoumenitsa) und von dort über die Berge nach Albanien. Dabei unterschätzten wir die Tücken des Hochgebirges. Sieben Pässe waren zu überqueren. Nach dem Pentalofos­pass (1.300 m) fuhr ich bei –10 °C die Bremsen meines Roburs fest; schließlich fanden wir einen geschützten Platz in dem Dorf Agia Sotira („Heilige Errettung“), wo hilfsbereite Griechen uns frühmorgens um 2 Uhr wieder flott bekamen.

Das war erst der Anfang. Im Frühjahr 1993 brachen wir mit zwei IFA W50-Lastzügen, einem Solo IFA W50, unserem 6,5t-Mercedes-LKW und einem Kleinbus, der die Fahrer wieder zurückbrachte, nach Pogradec auf. Im Oktober 1993 begleitete uns schon ein Fernsehteam des NDR-Nordmagazins. Daraus entstanden drei Fernsehbeiträge. Aus dem Restmaterial konnten wir einen eigenen Film „Hilfe von Freunden“ zusammenstellen – eines der wenigen Filmdokumente, die Einblick in die Situa­tion in Pogradec und den Bergdörfern aus dieser Zeit geben.

Bis 1997 bestand unsere Arbeit aus diesen Hilfstransporten; dazu kamen kleine Repara­turarbeiten an Schulen und an der damaligen Krankenstation in Bishnica, außerdem führten wir deutsch-albanische Jugend­begeg­nungen durch. Doch wir spürten immer deutlicher, dass die Hilfe für die Bergdörfer ­intensiviert werden musste.

Hilfskonvoi in Griechenland kurz vor der albanischen Grenze, März 1993
Hilfskonvoi in Griechenland kurz vor der albanischen Grenze, März 1993
Einsatz in Bishnica unter Militärschutz während des Bürgerkriegs 1997
Einsatz in Bishnica unter Militärschutz während des Bürgerkriegs 1997

Krise: Bürgerkrieg in Albanien 1997

1996 fanden sich deutsche Mitarbeiter bereit, eine Zeit lang mit den Menschen in den Dörfern zu leben. So beschlossen wir eine dauerhaft besetzte Hilfsstation in Bishnica. Dann kam das Frühjahr 1997. Wir hatten gerade Ylli Anastasi als ersten einheimischen Mitarbeiter eingestellt, da ­begannen die Unruhen; schnell entwickelte sich ein Bürgerkrieg, der das ganze Land erschütterte und wirtschaftlich völlig zurückwarf.

Wir standen als Verein vor der Frage: Können wir weitermachen? Einige Zeit lang waren Spenden komplett ausgeblieben. Doch als wir kurz davor waren, die Arbeit zu beenden, traf eine größere Summe ein; binnen kürzester Zeit organisierten wir zwei weitere Hilfstransporte. Bei der Fahrt von Pogradec in die Bergdörfer begleiteten uns griechische Soldaten der EU-Schutztruppe sowie eine Abteilung der Deutschen Botschaft. So konnten wir den Menschen die dringend benötigten Hilfsgüter bringen. Auch für die griechischen Soldaten war es ein anrührendes Erlebnis; irgendwann stellten sie ihre Gewehre ab und übergaben mit Tränen in den Augen Lebens­mittelpakete an alte Frauen, die aus Shpellë zur Straße gelaufen waren. Das war für mich ein bedeutender völkerverbindender Moment.

Später sagten Freunde aus Bishnica: „Dass ihr uns in dieser schweren Zeit nicht verlassen habt, als wir uns nicht von einem Dorf ins andere getraut haben, ihr aber aus Deutschland hergekommen seid – das hat uns sehr beeindruckt!“ Und sie zitierten ein albanisches Sprichwort, dass gute Freunde auch bei schlechtem ­Wetter kommen.

Etablierung: Sozialstation, Gemeindebau, Kosovokrieg

Im Herbst 1997 hatte sich die Lage beruhigt. Wir begannen die beständige Arbeit der Sozialstation in Bishnica, wo sich unser deutsch-albanisches Team intensiv um die Menschen in den Dörfern kümmerte. Nachdem zu Enver Hoxhas Zeiten jede Religionsausübung verboten war, wünschten sich die Menschen, dass wir eine kirchliche Arbeit anbieten. Das geschah in Zusammenarbeit mit Bischof Bolleter von der EmK. 1998 konnte ich die ersten 25 Menschen taufen und in die Kirche aufnehmen. Das setzte sich in den Folgejahren fort – so ist die EmK in Albanien wiedererstanden. (Heute arbeiten wir mit der Gemeinde von Pastor Akil Pano aus Tirana zusammen.)

Die nächste große Herausforderung stand schon 1999 an: Während des Kosovokriegs flohen tausende Menschen nach Albanien, viele auch nach Pogradec. In dieser Situation wuchs eine Partnerschaft ­verschiedener Hilfswerke vor Ort. Gemeinsam versorgten wir die Flüchtlinge; auch ­unsere Mitarbeiter aus Bishnica waren im Einsatz. In Wismar stellten wir gemein­sam mit dem Stadtjugendring in kürzester Zeit einige große Transporte mit Hilfsgütern zusammen. Entscheidend für den Erfolg der Hilfsaktion waren die Vernetzung vieler verschiedener Kirchengemeinden sowie der beständige Kontakt zur regionalen Presse und zum Fernsehen. Ein ARD-Team begleitete den ersten Transport. In Wetzlar trafen wir uns mit verschiedenen Akteuren, die in Deutschland Kosovoflüchtlinge unterstützten, monatlich zum Erfahrungsaustausch. Es war ein beständiges Learning by Doing.

Wachstum: Neue Projekte

Nach der Kosovokrise starteten wir eine Reihe verschiedener Hilfsangebote in Bishnica. Ein bedeutender Schritt war 1999 die Einrichtung des Internats für Kinder aus entlegenen Bergdörfern (s. Seite 25). Dieses Projekt bot nicht nur Schulbildung für die Kinder, sondern auch Arbeit für neue Mitarbeiter.

Die beiden Kurse zur Ausbildung von Krankenpflegehelfern Anfang der 2000er Jahre waren etwas Außergewöhnliches in den Bergdörfern; hierfür arbeiteten wir mit der Medizinischen Nothilfe Albanien (MNA) zusammen, gefördert vom Diakonischen Werk Sachsen. Die Kurse bildete die Grundlage für unser Pflegeprojekt, mit dem wir noch heute behinderte und alte Menschen in den Mokrabergen unterstützen. Ein weiterer Ansatz war die Nähstube, wo Florie Gjona (ausgebildete Schneiderin) Frauen an gespendeten Nähmaschinen schulte. Die Nähkurse förderten den Austausch zwischen den Frauen und stärkten ihr Selbstbewusstsein.

2000 fand erstmals unsere nunmehr jährliche Weihnachtspäckchen­aktion statt. Sie ist bis heute ein Höhepunkt für die Kinder aus den Bergdörfern. Wenn ich in Facebook schreibe, dass wir wieder Weihnachtspäckchen packen, schreiben ehemalige dankbare Schüler: „Schön, dass ihr das immer noch macht – wir haben als Kinder immer sehr darauf gewartet“. Die Verteilung der Weihnachtspäckchen verbindet uns mit allen Menschen in den Bergdörfern, auch mit der Stadtverwaltung von Pogradec.

Die Zusammenarbeit mit den Kommunen schätze ich als eine Besonderheit unserer Arbeit. Hilfswerke sind nicht selten abgeschlossen auf ihrem eigenen Grundstück, mit ihren eigenen Projekten. Wir standen irgendwie immer in engem Kontakt mit der Stadt Pogradec und den (heute eingemeindeten) Kommunen der Mokra-Region. Unter anderem konnten wir ein Müllfahrzeug, Löschzüge und Fahrzeuge für die kommunale Poli­zei vermitteln; wir brachten gespendete Möbel zu unzähligen Schulen, Betten und Material für Krankenhäuser, Büroausrüstung für das Rathaus, aber auch Ausrüstung für verschiedene Kirchengemeinden. Kommunalpolitische Seminare, meist in Zusammenarbeit mit der Konrad-Adenauer-Stiftung durchgeführt, intensivierten die Zusammenarbeit. Ein Musterbeispiel ist das Internat Bishnica, wo wir mit der Schulverwaltung und der Dorfschule kooperieren – hier wird Partnerschaft auf hohem Niveau gelebt.

Partner und Freunde: Gründung der Diakonia Albania

Nachdem wir lange Zeit eigenständig unter dem organisatorischen Dach einer befreundeten Hilfsorganisation (heute Nehemia Gateway) arbeiteten, wurde die Notwendigkeit einer eigenen albanischen Organisation immer deutlicher. Die 2012 erfolgte Gründung der Fondacioni Diakonia Albania (DA) schärfte unser Profil in Albanien und ermöglichte es, Partnerschaften mit einheimischen wie ausländischen Partnern besser zu gestalten. Von Anfang an beschäftigte die DA nur albanische Mitarbeiter – ein Zeichen für die enge Zusammenarbeit mit den Menschen vor Ort.

2015 bat uns die Sozialverwaltung um die Aufnahme von vier Geschwistern, die zwar Eltern hatten, aber auf der Straße lebten. Diese Kinder veränderten meine Vision für das Internat. Die Betreuung der Kinder war eine schwierige Herausforderung für unsere Mitarbeiter; trotzdem konnten sie ihnen eine Heimat geben, sie langsam an den Schulbesuch gewöhnen und auf ihr weiteres Leben vorbereiten. In dieser Zeit zeigte sich der Bedarf einer soliden Betreuung auch von Kindern in speziellen Notlagen. Wir begannen mit Planungen für ein neues Zentrum, das auch neue Impulse für die Bewohner von Bishnica und die gesamte Dorfentwicklung geben soll.

Unser langjähriges Engagement und die damit verbundenen Kontakte bewirkten auch eine Annährung auf kommunaler Ebene: 2019 schlossen die Hansestadt Wismar und die Stadt Pogradec die erste und bisher einzige deutsch-albanische Städtepartnerschaft.

Reicher an Erfahrung

Heute, nach 30 Jahren, sind immer noch viele Wünsche offen. Es gibt weiterhin große Not in Albanien; wir als Hilfsverein wünschen uns Mittel und Wege, um in den nächsten Jahren viel zu bewegen. Doch an dieser Stelle möchte ich meine Dankbarkeit für all die beteiligten Helfer, Spender, Partner und Bewohner vor Ort ausdrücken. Buchstäblich Tausende waren im Laufe von drei Jahrzehnten involviert – in Deutschland und in Albanien. Über die konkrete Hilfe hinaus ergaben sich durch die Aktionen und Projekte eine Unmenge an Begegnungen, durch die wir alle viel gelernt haben und gewachsen sind. Auch das sind Fortschritte für ein besseres Leben.

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