Blick auf Tirana und die umliegenden Berge

Ungeschliffener Diamant

Der Österreicher Ernst Atkins lebt seit neun Jahren in Albanien – ein ­interessantes berufliches Projekt und etwas Abenteuerlust schwemmten ihn 2010 dorthin. Er behauptet: Es gibt nur wenige Länder, bei denen Vorurteile so wenig zutreffen wie hier.

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Als meine Albanienpläne bekannt wurden, schwappte mir Unverständnis entgegen. „Hast du keine Angst? Dort kannst du dich doch nicht alleine auf die Straße wagen! Und erst deine Frau?“ Freunde gaben mir gut gemeinte Ratschläge mit: „Tirana soll ja angeblich halbwegs gehen, aber eine Fahrt Richtung Norden, wo noch die Blutrache herrscht, solltest du dir gut überlegen!“

Alles was ich damals über Albanien wusste war, dass es zwischen dem ehemaligen Jugoslawien und Griechenland an der Adria und dem Ionischen Meer liegt. Dass es 1992 das letzte europäische Land war, das sich aus einer stalinistischen Diktatur befreien konnte, und dass es das ärmste Land Europas ist. Als ich das meiner Frau erzählte, kam erst ein leichter Einwand („Muss es wirklich Albanien sein?“), aber schon am nächsten Tag meinte sie: „Mit dir ist es überall schön, lass uns gemeinsam Albanien entdecken.“ Also machten wir uns auf den Weg.

Unterwegs an der Karstquelle „Syri i Kaltër“ (Blue Eye)
Unterwegs an der Karstquelle „Syri i Kaltër“ (Blue Eye)
Ruhiger Strand an der Adriaküste
Ruhiger Strand an der Adriaküste

Die Gastfreundschaft

Die Gastfreundschaft der Albaner ist umwerfend, ihr Bemühen einem Gast zu helfen grenzenlos. Wir hatten die Ehre, im Laufe der Jahre bei einigen Familien zu Gast zu sein. Es ist dann unmöglich, in einer Herberge zu übernachten und nicht im Schlafzimmer der Familie, selbst wenn der Hausherr die Nacht im Fauteuil verbringen muss. So peinlich es einem als wohlhabendem Westeuropäer sein mag: Selbst Rentner mit 80 bis 120 € Monatseinkommen tischen zu Ehren des Gastes die kostbar­sten Lebensmittel und Getränke im Überfluss auf. Und auch wenn ein durchschnittlicher Beamter nur 200 bis 300 € verdient, wird es Ihnen unmöglich sein, den Kaffee, auf den Sie ihn einladen, zu bezahlen. Das würde seine Ehre nie zulassen.

Wer glaubt, die albanische Küche sei eine Mischung aus kroatischen Cevapcici und griechischem Musaka, wird rasch eines Besseren belehrt. Durch die albanische Diaspora leben Albaner auf der ganzen Welt verstreut. Bei ihrer Rückkehr haben sie die feinsten Gerichte aller Länder in ihr Land mitgebracht. Jede Art von Fleisch, Fisch, Seafood und natürlich auch Gemüse werden hervorragend und variantenreich zubereitet und mittlerweile in internationaler Tischkultur serviert.

Anregendes Lebensgefühl

Ich habe mich in diesem Land niemals unsicher gefühlt, egal ob in einer unbeleuchteten Nebenstraße in der Stadt oder in einem entlegenen Dorf irgendwo auf dem Lande. Ja, es gibt die albanischen Verbrechersyndikate. Rauschgiftschmuggel und Mädchenhandel sind keine Illusion oder Erfindung der Medien; selbst einige Politiker sollen mit drinnen stecken. Hin und wieder kommt es zu Machtkämpfen und Anschlägen unter diesen Kriminellen, aber das gibt es auf der ganzen Welt. Das Alltagsleben sieht anders aus. Bei einem Restaurantbesuch in Albanien können Sie Ihr Mobiltelefon am Tisch liegen lassen, während Sie die Toilette aufsuchen – die Chancen, dass es bei Ihrer Rückkehr noch dort liegt, stehen sehr gut.

Natürlich haben wir in den hintersten Winkeln des Landes, so wie auch in mancher Alpenregion, noch alte Frauen getroffen, die ganz in Schwarz gekleidet sind. Aber in Tira­na und anderen Städten werden Sie staunen, wie attraktiv und sexy die Damen sich in neuester italienischer Mode kleiden. In keiner Stadt Westeuropas sehen Sie so wenige verschleierte Frauen wie im „moslemischen“ Albanien; und diese wenigen sind mit ziemlicher Sicherheit die Frauen arabischer Geschäftsleute oder Diplomaten. Wer sich in das Nachtleben von Tirana oder den Küstenorten wagt, wird danach so manche Großdiskothek in einer europäischen Hauptstadt als langweilige Sauf- und Abtanzanstalt empfinden.

Sie lieben die unberührte Natur? Dann sind Sie in Albanien richtig! Hier können Sie traumhafte Gebirge ähnlich den Kalkalpen entdecken, unberührte Flusstäler für Rafting oder Flusswanderungen, und nur eine Autostunde von Tirana entfernt ein­same Sandstrände, an denen Sie selbst im Hochsommer fast alleine sind.

Frisch und attraktiv angerichtet: Seafood in einem Restaurant
Frisch und attraktiv angerichtet: Seafood in einem Restaurant
Blick auf Tirana und die umliegenden Berge
Blick auf Tirana und die umliegenden Berge

Albanische Mentalität

Albaner sind mutige Kämpfer und gehen bis zum Äußersten; wer zu rasch nachgibt, wird als Weichei abgetan und unter Männern nicht respektiert. Das zieht sich durch, vom Straßenverkehr (Vorfahrt hat nicht, wer laut Gesetz Recht hat, sondern wer den Mut hat und einfach fährt) über das Geschäftsleben (da kann in den Verträgen stehen was es will, man muss sich danach noch immer jeden Millimeter erkämpfen) bis ins Privatleben, wenn es um die Hoheitsrechte über eine Frau geht.

Erst seit etwas mehr als 100 Jahren ist Albanien ein selbstständiger Staat. 500 Jahre war das Land von den Türken beherrscht und dann 40 Jahre lang vom Kommunismus. Davor haben sich Griechen, Serben oder Venezianer immer wieder Teile einverleibt und den Menschen erklärt, an welchen Gott sie glauben und an wen sie Steuern abführen sollten. Dadurch haben die Albaner gelernt, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Sie haben ihr eigenes Rechtssystem entwickelt, den Kanun, und leben diesen teilweise bis heute – unabhängig vom jeweils herrschenden Rechtssystem.

Das Leben in Albanien ist meist nicht „von oben“ geregelt und man muss viel Eigenverantwortung entwickeln. Da sich aber kaum ein Mensch ernsthaft um die Einhaltung von Gesetzen kümmert, genießt man auch viele Freiheiten. Was schon so manchen deutschen Kollegen auf die Palme trieb: „Das darf doch nicht wahr sein!“ „Die können doch nicht…“ usw. Mir persönlich hat es sehr geholfen, hier die Dinge von einer anderen Seite zu sehen.

Voneinander lernen

Muss etwas richtig sein, nur weil „wir in Europa“ es so machen? Sicherlich gibt es viele Punkte, an denen die EU-Länder von den Albanern lernen könnten. Ich denke da an die Überregulierungen, die vielfach nur den Firmenlobbies nützen. Kaufen Sie einmal in Albanien Medi­kamente: Sie bekommen nicht auto­matisch eine ganze Packung, von der die Hälfte im Sondermüll landet, sondern der Apotheker öffnet für Sie die Packung und verkauft Ihnen genau so viele Pillen wie Sie brauchen – auch einzeln. Dafür finden Sie aber an jeder Ecke eine Apotheke, denn es gibt keinen Gebietsschutz.

Oder wollen Sie eine beglaubigte Unterschrift? In Albanien brauchen sie dafür weder einen Termin noch achtzig Euro. Einen der zahlreichen Notare finden Sie gleich um die nächste Ecke, und die Unterschrift haben Sie in zehn Minuten für zehn Euro. Als das Glas meiner Schweizer Automatikuhr brach, wollte man in Österreich alleine für den Kostenvoranschlag schon 90 Euro von mir; die Reparatur sollte dann vier Wochen dauern. In Albanien reinigte der Uhrmacher in einer halben Stunde die Uhr von Glassplittern und setzte ein neues Glas ein – alles zusammen für 15 Euro.

Natürlich benötigt Albanien noch viele Reformen. Wenn ich an das Grundbuch denke oder eine unabhängige Gerichtsbarkeit, dann steht das Land vor gewaltigen Aufgaben. Wer will schon in einem Land investieren, wo die Investitionen nicht geschützt sind und man der Willkür oder Bestechlichkeit von Beamten ausgesetzt ist. Ich würde mir aber wünschen, dass es einen intensiven und mit offener Einstellung geführten Dialog mit der EU gibt, und kein einseitiges Aufoktroyieren von Gesetzen und Vorschriften.

Bei Albanien handelt es sich um einen ungeschliffenen Diamanten mit enormem Potenzial. Was die Po­li­tiker und die Albaner selbst daraus machen, wird uns die Zukunft zeigen. Ich wünsche Albanien auf diesem Weg nur das Allerbeste!

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