Straßenszene Pogradec, 1998

Die Geburt der Demokratie

Studentenstreiks, Einführung des Pluralismus, Lotterie-Aufstände, Bürgerkrieg und neue Verfassung: Im Albanienheft 2001 erzählt die Journalistin Fabiola Haxhillari Albaniens schweren Übergang vom Stalinismus zur Demokratie

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Enver Hoxha, der 50 Jahre amtierende Diktator Albaniens, starb 1985. Die Nation trauerte acht Tage lang. Der nachfolgende Führer Ramiz Alia machte einige kontrollierte Anstrengungen zur Liberalisierung und Öffnung des Landes. Trotzdem hatte die Politik der Langzeit-Isolation des Landes und die Veränderungen entlang marxistischer Schemen sehr schwer wiegende Konsequenzen für die albanische Wirtschaft gebracht. Dies alles brachte ein allgemeines Gefühl der Resignation hervor.

In den späten 80ern wurden Revolten in Shkoder, Kavaje und anderen Städten organisiert, bei denen Veränderungen gefordert und Stalinbüsten umgeworfen wurden. Von diesen Ereignissen flüsterte man nur, während die albanischen Medien schwiegen. Das einzige Fenster zur Welt war das italienische Fernsehen. Nachrichten über die demokratische Revolution in Rumänien beeinflussten die albanische Öffentlichkeit tief. Im Juli 1990 stürmte eine beachtliche Anzahl Jugendlicher die westlichen Botschaften und forderten ihre Ausreise aus Albanien als Emigranten. Die Regierung nannte sie „Hooligans“, und alle, die versuchten, die Grenzen zu passieren, wurden von der Polizei erschossen.

Studentenstreiks führen zur Gründung politischer Parteien

Im Herbst des Jahres 1990 wurde das Bedürfnis nach der Einführung des Pluralismus in die Art des Denkens öffentlich erkannt. Im Dezember brach ein Streik tausender Studenten aus. Als Erstes brachten sie wirtschaftliche Forderungen vor, und als die Regierung dazu schwieg, politische Forderungen. Hunderte von Petitionen von arbeitenden Menschen unterstützten sie. Eine Repräsentantengruppe der „Studentenrebellen“ traf sich mit dem Staatsoberhaupt Ramiz Alia. Unmittelbar nach diesem Treffen entschied die kommunistische Führung, die Gründung politischer Parteien zu erlauben. Einen Tag nach dieser Entscheidung wurde die Gründung der Demokratischen Partei Albaniens ausgerufen.

In der ersten Multi-Parteien-Wahl im März 1991 gewann die Opposition nur ein Drittel der Stimmen, wobei sie in den großen Städten die Mehrheit hinter sich hatte. Die kommunistische Mehrheit schlug sofort die Annahme einer neuen Verfassung vor. Das Ergebnis der ersten Wahlen gab einer Bürgerbewegung Auftrieb, die von der Demokratischen Partei geleitet und international unterstützt wurde. Man forderte radikale Veränderungen auf allen Gebieten. Die rechts gerichtete und auch die liberale Presse riefen intensiv zu Veränderungen auf.

Wirtschaftlicher Niedergang und die „Lotterie-Aufstände“

Nach einem Jahr wurde wieder gewählt, und diesmal gewann die Demokratische Partei (PD). Ihr Parteichef Sali Berisha wurde der Präsident von Albanien. Er erließ radikale Reformen. Hunderte unwirtschaftliche Betriebe wurden geschlossen. Das verursachte viele soziale Probleme, brachte aber die privat- und volkswirtschaftlichen Faktoren in ein richtiges Verhältnis. Berisha als Präsident versammelte alle Macht um sich und führte das Land in einer absolutistischen Art und Weise. Dabei beschädigte er das Image von der neuen Demokratie Albaniens.

In dieser Zeit wurden verschiedene so genannte finanzielle Pyramidenfirmen oder Geldleih-Institute gegründet. Der Staat gab seine Zustimmung zu diesen unproduktiven Firmen. Private Geschäftsleute erwirtschafteten weniger Geld im Vergleich zu den Gewinnen, die sie erhielten, wenn sie ihr Geld in den Pyramidenfirmen anlegten. Das verursachte mangelndes Interesse, die Produktion im Land zu steigern und führte zu steigenden Arbeitslosenzahlen. 1995 warnte der „International Monitoring Fund“ vor der Gefahr der Pyramidenfirmen, aber die Regierung ergriff keine Maßnahmen.

Die internationale Gemeinschaft betrachtete die Wahlen von 1996 als zweifelhaft in Bezug auf die Authentizität des freien Stimmrechts. Die Sozialisten boykottierten sie wegen Unregelmäßigkeiten. Im Umgang der Demokraten mit den Medien wurden totalitäre Strukturen sichtbar.

Ende 1996 und Anfang 1997 löste die Zahlungsunfähigkeit der Pyramidenfirmen explosionsartig einen Volksaufstand aus. Er begann in den Städten Vlora und Lushnja und breitete sich dann über das gesamte Land aus. Die meisten der Menschen verloren alles, was sie besaßen, viele sogar ihre Häuser. Die politische Situation geriet außer Kontrolle. Die Menschen eigneten sich fast eine Million Waffen an, während die Militärbasen Zivilisten überlassen wurden, in der Hauptsache Jugendlichen. Die Marineflotte und die Luftwaffe wurden auf See verankert. Der Notstand wurde ausgerufen. Im März 1997 resignierte die DP-Regierung. Der österreichische Politiker Franz Vranizki wurde als internationaler Gesandter beauftragt, unter den politischen Kräften zu vermitteln und neue Wahlen vorzubereiten.

Im Juni 1997 gewannen dabei die sozialistischen Kräfte und formten eine neue Regierung, geführt von Fatos Nano als Vorsitzenden der Sozialistischen Partei (PS). Er bildete ein Kabinett auf breiter Basis, indem er etliche politische Parteien in einer Gruppe mit Namen „Allianz für den Staat“ einbezog. Obwohl eintausend ausländische westliche Beobachter den Wahlprozess beobachtet hatten, erkannte die Demokratische Partei ebenso wie der andere rechte Flügel die Wahlen nicht an.

Regierungskrise und eine neue Verfassung

Im September 1998 wurde ein sehr prominenter Parlamentsabgeordneter der Demokratischen Partei ermordet. Die Parteispitze gab dem Mord sofort politischen Charakter. Eine revoltierende Menge bedrohte die größten staatlichen Institutionen in Form eines bewaffneten Aufstands. Die Menschen riefen politische Parolen, die von öffentlichen und privaten Fernsehstationen verbreitet wurden. Die Regierungsangehörigen und die Polizei verließen ihre Büros, und Anarchie regierte einige Stunden in Tirana. Westliche Staatsoberhäupter kamen schnell überein, dass sie einer Regierung, die aus gewaltsamen Revolten hervorkommt, keine Anerkennung geben würden. Das Land stürzte in eine Regierungskrise. Die „Allianz für den Staat“ wurde gebildet, geführt von dem 31-jährigen Pandeli Majko. Bis heute gibt es noch viele Unklarheiten über die Ereignisse von 1997 und 1998. Die albanischen Gerichte sind auch noch nicht zu einer definitiven Entscheidung über die bewaffneten Krawalle gekommen.

Im November 1999 stellte die sozialistische Regierung in Zusammenarbeit mit den Europäischen Institutionen dem albanischen Volk die erste demokratische Verfassung vor. Die Menschen nahmen den Entwurf in einem Referendum an.

Hilfe für Kosovo-Flüchtlinge

1999 war ein Jahr der Herausforderung für die albanische Nation. Über 600.000 Kosovaren mussten vor dem serbischen Militär fliehen. Etwa 20.000 Flüchtlinge überquerten täglich die albanischen Grenzen. Viele Albaner öffneten ihre Häuser und nahmen sie trotz ihrer armen wirtschaftlichen Situation auf. Der Frieden im Kosovo wurde am 10. Juni 1999 wiederhergestellt. Albanien war nie zuvor von so vielen weltpolitischen Führern besucht worden.

Eine politische Initiative von Nano für die Reform der Sozialistischen Partei brachte die Wiederwahl des Vorsitzenden. Der aktuelle Premierminister Pandeli Majko war auch unter den Kandidaten. Obwohl er die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft und den Respekt des Volkes genoss, verlor er gegen Nano nur mit einem geringen Stimmenunterschied. Nach dieser moralischen Niederlage legte Majko auch sein Amt als Premierminister nieder, während Nano vorschlug, Ilir Meta als den neuen Premier zu wählen. Er führte das Land bis zu den allgemeinen Wahlen am 24. Juni 2001, wo die Sozialisten einmal mehr die Mehrheit der Sitze im Parlament erhielten.

Fabiola Haxhillari, albanische Journalistin; aus: Albanienheft 2001

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