Wer heute die Mokra-Berge besucht, das Haupteinsatzgebiet des CHW, findet sich in landschaftlich reizvoller Umgebung wieder, die gleichwohl von der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung weitgehend abgekoppelt erscheint. Das war nicht immer so. Des Reichtums an Bodenschätzen halber gründeten die Illyrer seit der Eisenzeit hier bedeutende urbane Zentren; auch führte die römische Heer- und Handelsstraße Via Egnatia von der Adriaküste zum Bosporus durch die Region.
Ein vermutlicher Königssitz der Illyrer entwickelte sich an dieser Route im 4. Jh. v. Chr. in exponierter Lage über dem Ufer des Skumbin-Flusses auf einem bis zu 1.040 m hohen Hügel. Heute liegt dort das malerische Dorf Selce e Poshtme. Archäologen glauben, mit Selce die Reste der antiken Stadt Pelion gefunden zu haben, die in der Zeit Alexanders des Großen mit 8 Hektar Siedlungsfläche ihre größte Blüte erlangte. Damals wurden Terrassen angelegt, um die Bebauung zu ermöglichen. Der Ort erhielt Ende des 2. Jh. v. Chr. eine Quadermauer, verfiel dann jedoch rasch und wurde 547/48 n. Chr. von den Slawen erobert. Erhalten haben sich fünf illyrische Königsgräber aus dem 4. und 3. Jh. v. Chr.
Dass diese Zeugnisse einer großen Vergangenheit heute zugänglich sind, ist den Ausgrabungen des albanischen Archäologen Neritan Ceka zu verdanken, der 1997/98 auch als Innenminister Bekanntheit erlangte. 1969–72 wurden fünf Gräber freigelegt, von denen ein Felskammergrab mit ionischer Fassade und Tonnengewölbe das Paradebeispiel eines makedonischen Monumentalgrabes abgibt. Einzigartig ist dagegen das sogenannte Theatergrab mit stufenartigen Sitzreihen, wahrscheinlich für Totenzeremonien. In einem weiteren Grab ließen sich Körper- und Urnenbestattungen aus verschiedenen Bestattungsperioden nachweisen. Die reichen Grabbeigaben wurden offenbar schon in der Antike eine Beute von Grabräubern. Die erhaltenen Sarkophage beherbergt inzwischen das Nationalmuseum Tirana. Das gilt auch für ein Kammergrab aus dem 3. Jh. und ein tempelartiges Grab mit fast 70 m langer Fassade, Tonnengewölbe und früherer Freskenbemalung.
Eine Besichtigung der historischen Stätte lohnt sich in jedem Fall, wenngleich die versteckte Lage gute Ortskenntnisse voraussetzt. Wer die schmalen Aufstiegspfade überwindet, wird auch durch die wunderbare Aussicht entschädigt, die zugleich die exzellente Lage der einstigen Höhenburg nachvollziehbar macht.
Das touristische Potenzial der Kulturerbestätte ist derzeit noch ausbaufähig. Jenseits der touristischen Strahlkraft bietet der Ort die Chance, die Auseinandersetzung der Menschen Albaniens mit der eigenen Geschichte zu befördern und so eine dem Leitbild des CHW entsprechende Bildungsarbeit zu gewährleisten.
Fotos: Matthias Pommranz, Hans Otto Weinhold